In seinem neuen Buch “Jenseits der Diagnosen” schreibt der seit nahezu seit dreißig Jahren tätige Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter Dr. Holger Richter von den Fallstricken der Psychotherapie. Ausgehend davon, dass eine Diagnose nicht sagt, was los ist, zeigt er die vielfältigen, auch neuen gesellschaftliche Einflüsse auf eine Psychotherapie auf und ergründet so das Rätsel der immer häufiger werdenden psychischen Diagnosen. Im individuellen Therapieplot versucht er, die vielen Faktoren zusammenzufassen, um so dem Immer-Mehr an Therapie zu entkommen.
Holger Richter
Jenseits der Diagnosen
Fallstricke der Psychotherapie
Im Oktober 2024 bei Kohlhammer.
Psychiatrische Diagnosen und Therapien weiten sich immer mehr aus. Eine psychologisierte Gesellschaft, aufmerksamkeitsheischende Medien und die Therapeuten selbst spielen eine wesentliche Rolle dabei. Diagnosen und Therapie entwickeln sich auch als eine neue Form der Identität, sorgen für Status und Anerkennung. In der westlichen Welt sehen wir bei vor allem bei jungen Frauen diese exponentielle Ausweitung. Diagnosen vervielfachen sich, im neuen DSM werden es 328 sein, wo man früher mit einer Handvoll auskam. Doch schwer kranke Menschen bekommen zugleich kaum Zugang zu suffizienter Psychotherapie.
Im ersten Teil des Buches beleucht der Autor eine Vielzahl von Ursachen, wie etwa Ansteckung durch soziale Medien, Überbehütung, sensible Sprache, Opferkultur, den femininen Faktor, Identitätsverluste und Rollenwechsel, Selbstdiagnosen, Concept Creep, Entstigmatisierung, aber auch Krankheitsgewinn, finanzielle Vorteile, Therapeutenselbstbild und einige mehr.
Der zweite Teil ist unterhaltsame Psychologie: In 16 Fallgeschichten erzählt das von ungewöhnlichen Fällen, bei denen die Diagnose nicht sagt, was los ist. Behandlungen drehen sich im Kreis, es kommen immer mehr Diagnosen und Therapien hinzu. „Die schwarze Königin“, „Die anonymen Briefe“ oder „Der Selbstmordattentäter“ erzählen davon, dass es Therapeuten schwer fällt, ihre eigenen Anschauungen in Frage zu stellen.
In kurzen Nachbetrachtungen werden die Knackpunkte erfasst und der Therapieplot entwickelt, um dem Dilemma des „Immer Mehr“ an Therapie zu entkommen.
Es richtet sich an psychologisch Interessierte, die knifflige Therapiefälle, ungewöhnliche Interaktionsmuster und die vielfältigen Einflüsse auf eine Psychotherapie kennenlernen wollen, aber auch an praktisch tätige Psychotherapeuten, die Fallstricke von Psychotherapien umgehen wollen.
Leseprobe: Quo vadis, Psychotherapie?
An einem Morgen nach fast 30 Jahren psychotherapeutischer Arbeit, als ich wieder einmal an einem Therapieantrag einer Patientin mit ihrer siebenten Psychotherapie saß, bei der von Therapie zu Therapie mehr Diagnosen hinzukamen, dachte ich: Was ist mit der Psychotherapie geschehen? Trotz massiv gestiegener Finanzmittel, Personalstellen und längerer Therapiezeiten war in der Fachwelt und Öffentlichkeit noch immer die Rede von psychotherapeutischer Unterversorgung, während zugleich die Rate, Diagnosenanzahl, Krankschreibungen einzelner psychischer Erkrankungen stieg und stieg. Was war hier los? Quo vadis, Psychotherapie? Ich hatte als Gutachter mehr als 8.000 ambulante Therapieanträge mit ihren Diagnosen und Ursachenzuschreibungen sowie unzählige Therapiekonzeptionen in der Ausbildung zum Psychotherapeuten gelesen. Daraus folgen hier meine Überlegungen.
Psychotherapie ist zur Normalität geworden. Wo sich früher Menschen mit ihren Ängsten, Traumata und Konflikten versteckten, stigmatisiert wurden, heimlich tranken, in den Freitod gingen oder hinter somatischen Erkrankungen ihr Leid verbargen, gibt es heute ausreichende Hilfen. Zahlreichen Menschen mit psychischen Erkrankungen kann gut geholfen werden. Viele Therapien sind erfolgreich, die Behandlungstechniken haben sich verfeinert. Die Selbstmordrate halbierte sich in Deutschland von 1980 bis 2020 nahezu.
Die Rate der schweren psychiatrischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder bipolare Erkrankung ist in etwa gleich geblieben, während andere deutlich ansteigen oder fluktuieren, einige sogar exponentiell, wie derzeit etwa die Genderdysphorie. Eine Störung kam in all den Anträgen gar nicht mehr vor – die „Potenzstörung“ (F52.2 nach ICD), die nun weder psychotherapeutisch noch mit psychiatrischen Medikamenten – jedoch sehr erfolgreich behandelt wird.
Man geht heute gern zum Psychotherapeuten. Normalzustände wie etwa Trauer, gehobene Stimmung, Verpeiltheit und Aufschieben werden als Krankheit behandelt. Es gibt Menschen, die machen ihre elfte Psychotherapie. Die Zahl der ambulant tätigen Fachärzte für Psychotherapie hat sich in Deutschland seit 1991 von 480 auf 4.832 verzehnfacht. Die Zahlen für ambulant tätige psychologische Psychotherapeuten sind nicht so lange erhoben worden, aber allein von 2015 bis 2022 stieg sie von 22.547 auf 32.600. Jedes Jahr kommen also 2.000 neue Niederlassungen für psychologische Psychotherapie in Deutschland hinzu. 2017 gab es 56.223 psychiatrische Betten, 15.400 Tagesklinikplätze und 450 Psychiatrische Institutsambulanzen, weiterhin psychosomatische Einrichtungen und Reha-Einrichtungen. Dazu kommen unzählige, nach meinen Schätzungen ca. 50.000 psychologische Berater, Coaches und Heilpraktiker allein in Deutschland. Auch in Österreich und der Schweiz stieg die Zahl der Vertragspsychotherapeuten seit dem Jahr 2000 auf mehr als das Doppelte. Sind wir alle psychisch krank oder stimmt etwas nicht mit dem System Psychotherapie?
Leseprobe aus der Therapiegeschichte “Was ist Wahrheit?”
In der kleinen Supervisionsgruppe, die ich freitags leitete, gab es drei Frauen und einen Mann, die übliche Verteilung im Psychotherapeutenberuf. Jana arbeitete in einer Rehaklinik für Schmerzpatienten, Friederike auf einer psychiatrischen Station und Esther war ganz mit ambulanten Ausbildungstherapien beschäftigt. Und Christoph.
Christoph war ein junger Mann, dreißig Jahre, blaue Augen. Er fragte viel, war manchmal etwas unsicher und schaute dann von einem zum anderen. Seine Stimme war tief und gefühlvoll, ich hörte ihn gern sprechen. Sein Lächeln war das eines staunenden Jungen. Er schrieb an seiner Doktorarbeit und behandelte ambulante Fälle für seine Psychotherapeutenausbildung. Christoph war engagiert, er wollte helfen, er las nach, wo er konnte.
In einer der Supervisionssitzungen berichtete er: „Ich habe gestern einen Fall aufgenommen, das glaubt ihr nicht, wieviel Scheiße ein Mensch erleben kann! Ich habe es selbst erst nicht geglaubt!“
Dann sprach er von einer Patientin, die nach vielen Klinikaufenthalten seine Behandlung aufsuchte: „Frau M. ist 23, und schon berentet. Sie wohnt in einem Heim für Frauen. Sie hat die Schule in der 9. Klasse und alle Ausbildungen abgebrochen und lebt von Sozialhilfe. Die Patientin ritzt sich regelmäßig. Sie hat immer wieder Angstzustände, Angst insbesondere vor Männern, aber auch vor Monstern und Hexen. Sie hat Alpträume. Sie rastet manchmal aus und schmeißt Zeug durch die Gegend, so dass sie vom Heim auch schon in die Psychiatrie verlegt wurde. Frau M. hat wiederkehrende Depressionen, mit völliger Antriebslosigkeit, Verkehrung des Tag-Nacht-Rhythmus, Suizidgedanken. Sie hat auch schon mehrere Versuche hinter sich, Tabletten, Pulsadern aufschneiden. Derzeit ist sie nicht suizidal. Sie berichtet über Schmerzen am ganzen Körper. Sie muss zwanghaft masturbieren. Manchmal ist sie einfach aus dem Heim weg und dann findet man sie irgendwo wieder und sie sagt, dass irgendwelche Typen sie angemacht haben. Ihr würde dass ständig passieren.“
„Wie sieht sie denn aus?“, fragte Jana. „Borderlinerin halt“, sagte Christoph mit den blauen Augen. „Gepierct, schwarz gefärbte Haare, ziemlich zerrissen, nicht besonders appetitlich, wenn Du mich fragst“", sagte er. „Frau M. schläft schlecht, hat Alpträume, wo sie von Hexen gefoltert wird. Sie kann sehr schnell von todtraurig bis aggressiv drehen, hat sie erzählt.“
„Und was ist ihr so Schreckliches passiert?“, fragte Friederike.
Christoph antwortete: „Sie sagt, sie sei vom Vater vergewaltigt worden, dann von mehreren Bekannten des Vaters, später rituell von einem satanistischen Ring. Ekelhaft. Ich hab in der ersten Stunde nicht genauer nachgefragt. Ist das überhaupt ein Ausbildungsfall?“ Christoph blickte mich fragend an.
Die Gruppe war geschockt. „Davon habe ich bislang nur gelesen“, sagte Esther. „Diese Schweine!“
Holger Richter kann die Daten und Fakten zum Buch und zur Diagnoseninflation als Vortrag mit PP-Präsentation vorstellen und die wesentlichen Faktoren der Pathologisierungspandemie und die Hauptthesen des Buches erklären. (Vortrag 60 - 90 min) Wenn gewünscht, Lesung aus den Therapiegeschichten.